„Krähen sind keine Poser“

Wer in der Abenddämmerung im Rorschacher Hauptbahnhof ankommt und zu Fuss den Weg den Hügel hinauf in Angriff nimmt, wähnt sich in Alfred Hitchcocks Thriller “Die Vögel” (1963). In den laublosen Bäumen sitzen Hunderte von Krähen und richten sich auf eine lange Nacht ein. Unheimlich klingt das Krächzen und Flattern der schwarzen Tiere, nachdem alle Singvögel schon verstummt sind.

Woher kommen die Krähen? Warum lassen sie sich mitten in Rorschach nieder? Seit 1990 steigt die Population der Rabenkrähe – und vieler ihrer Verwandten – nicht nur in Rorschach, sondern allen urbanisierten Gebieten der Schweiz. Von Genf über Zürich bis zu uns zeigt die Karte der Vogelwarte Sempach eine zunehmende Verdichtung des Vorkommens der Vögel.

Juvenile Kraftmessungen
Haben wir es mit einer Krähenplage zu tun? Mirko Calderara, der Wildhüter unserer Region, winkt ab. Von den Vögeln gehe keine Bedrohung für Menschen aus, sagt Calderara. Bei Krähen gibt es nämlich Brut- und Schwarmvögel.

Greifen Krähen Menschen an, dann nur wenn diese dem Nest eines Brutpaares zu nahe kommen, oder wenn der Vogel von Menschenhand aufgezogen wird und seine natürliche Scheu vor uns verliert, sagt der Wildhüter. Vom Schwarm, der sich nachts in Rorschach niederlässt, und sich tagsüber bis ins Vorarlberg verteilt, ist nichts zu befürchten.

Auch von seinem Wohnort Heiden sehe er wie abends Krähen aus Osten Richtung See fliegen. Dabei handle es sich um Jungvögel, die noch nicht brüten, sich im Schwarm messen und gleichzeitig in der Menge Schutz suchen – sowie sich auch die menschliche Jugend in Rorschach am Abend gerne am See mit bald paarungsfähigen Artgenossen trifft.

Als Naturspektakel geniessen
Mit dem bekannten Rorschacher Biologen Josef Zoller und seiner Frau Christel, die in der Gegend wohnen und als häufige Zuggäste die Entwicklung der Rabenkolonie fasziniert beobachten, sehen wir im Eindunkeln den Flugkapriolen der Krähen im Wind zu. Für den Biologen ein Spektakel, das man als eines der Naturgeheimnisse, die uns geblieben sind, geniessen sollte.

Auch wenn die Vögel wie junge Autopiloten ihre Flug- und Kreischfähigkeiten unter Beweis stellen wollen, sagt Zoller: “Krähen sind keine Poser“. Er meint damit: Das Problem der Gasgeber in ihren Benzin-Boliden in der Stadt ist dringender als die schwarzen Schwarmflieger in der Eindunkelung.

Warum sich die Rabenkrähen am Hang über dem Bahnhof sammeln und nicht etwa im viel geräumigeren und bäumigeren Wartegg-Park, knapp 800 Luftlinien-Meter entfernt, kann Zoller nicht erklären. Laut der Vogelwarte Sempach haben Krähen gerne gute Aussicht – diese zumindest ist in den Bäumen überhalb der Rorschacher Bucht unbestritten erstklassig. Wildhüter Calderara vermutet, dass die Vögel die Nähe zur Stadt suchen, weil sie hier kaum natürlichen Feinden ausgesetzt sind – grossen Habichten oder Falken, die Menschen scheuen.

Krähenkiller Uhu
Der grösste Krähenjäger ist aber der König der Eulen, der Uhu – und laut Calderara ist in unserer Region zumindest einer dieser majestätischen Nachtvögel unterwegs. “Ein Uhu kann die Krähen in der Nacht regelrecht vom Baum pflücken,” sagt Calderada. Zoller kann dies bestätigen: Es stiess einst auf einen Krähenfriedhof – ein Rabenskelett neben dem nächsten – unter einem Baum, auf dem ein Uhu lebte.

Kann man sich also als Krähenschutz den Ruf des Uhus aufs Handy laden und laut abspielen? Calderada bezweifelt, dass dies bei den hochintelligenten Tieren eine Wirkung zeigen würde, so wie die Krähen fast jede Verscheuchungsmassnahme schnell durchblicken – ob Rufe von Rabenjägern, Angstschreie von Artgenossen, oder Vogelscheuchen.

“Rupfungen” als Rezept
Zwar ist die Rabenkrähe das meiste Jahr hindurch – und in gefährdeten Acker- und Rebbau-Gebieten ganzjährig – zum Abschuss freigegeben, doch die äusserst intelligenten Tiere werden, wenn bedroht, fast nur stärker: Schiesst man Schwarmvögel ab, haben die Brutvögel mehr Zeit, sich dem Nachwuchs zu widmen. Werden Brutvögel getötet oder Nester ausgehoben, rücken die stärksten der Schwarmvögel sofort nach.

Laut Zoller können die Krähen dazu eine Fähigkeit entwickeln, die fast schon nach Sciene Fiction klingt: Ist eine Krähenpopulation bedroht, werden die Jungvögel nicht erst nach vier Jahren, sondern schon zwei- oder dreijährig geschlechtsreif.

Ein Rezept zum schnellen Verscheuchen von Schwärmen hat Calderada allerdings: Sogenannte Rupfungen: Ausgewiesene Jäger schiessen ein paar Krähen, deren gerupfte Federn werden dann in einer Nacht- und Nebel-Aktion unter dem Nachtlager des Schwarmes ausgestreut. Die erwachenden Krähen stehen am nächsten Morgen unter dem Eindruck, in der Nacht sei ein Massaker angerichtet worden und suchen sich neue Übernachtungsgelegenheiten.

Vogelwelt nicht unbeobachtet
Zoller gibt zu Bedenken, dass die Zahl und die Vielfalt von Insekten in den vergangenen Jahrzehnten stark gesunken ist, durch Gifte, Überdüngung, Überbauung. Singvögel, die sich von solchen Insekten ernähren, sind dadurch rarer geworden. Allesfresser wie Krähen und Greifvögel haben sich, nicht zuletzt durch die Wegwerf-Gesellschaft, ausbreiten können.

Wer mehr über die faszinierenden Krähen erfahren will, mache sich auf den Rabenweg in Untereggen. Der Lehrpfad klärt auch, dass Rabenmütter ihrem Ruf durchaus nicht gerecht werden und sich fürsorgend um ihren Nachwuchs kümmern. Auch werden viele andere Klischees über die schwarzen “Unglücksbringer” widerlegt.

Jagd auf Ratten in New York
Irgendwie darf Rorschach angesichts der Rabendichte ja auch stolz sein, als “urbanisiertes Zentrum” zu gelten. Grössere Städte wie etwa New York haben sich die Krähen übrigens schon in den 90er Jahren zu Verbündeten gemacht: Sie werden im Morgengrauen für die Jagd auf die Ratten, die die Stadt plagen, eingespannt. Vielleicht lassen sich die akrobatischen Flieger in Rorschach für die Jagd auf Poserwagen gewinnen?

Roman Elsener

Dies ist der erste Beitrag des Rorschacher Journalisten, Lehrers und Musikers Roman Elsener für das Rorschacher Echo. Roman, der seine Zeit seit über 25 Jahren zwischen Rorschach und New York teilt, ist Sänger der Band “The Roman Games” und bläst in unregelmässigen Abständen in sein Horn fürs Rorschacher Echo. You are welcome, Roman.

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1 Kommentar zu "„Krähen sind keine Poser“"

  1. Lieber Res
    Gratulation, dass Du Roman Elsener Platz bietest im Rorschacher Echo.
    Der Mann kann schreiben und das ist heutzutage eine kostbare, seltene Gabe. Die Lektüre des „rabenschwarzen Artikels“ ist ein Vergnügen und eine Bereicherung, in einer Zeit der bruchstückhaften Sprache, welche meist verludert daherkommt und gespickt ist mit Anglizismen. Ich freue mich auf ein hoffentlich lang andauerndes publizistisches Engagement von R. E. im einzig existenten Lokalmedium der Region, das diese Bezeichnung noch verdient.

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