Nostalgisches Lesen über Rorschach der 1950er Jahre

Otmar Elsener hat nachstehenden Text verfasst. Herzlichen Dank.

In seinem autobiographischen Roman «Seelenwege» schildert der im Ruhestand lebende Sprachlehrer 1938 geborene Eduard Philipp Höllmüller, wie er nach ersten Lebensjahren in Winterthur mit seinem jüngeren Bruder Ernst nach der Scheidung ihrer Eltern 1945 der unnachgiebigen und bigotten Grossmutter in Rorschach übergeben wurde. Die bisher reformiert und liberal aufgewachsenen Buben wurden in ein enges katholisches Milieu gezwungen.

Für in Rorschach in jenen Jahren aufgewachsene Leser und Leserinnen sind besonders die Texte lesenswert, in denen Höllmüller das primarschulische und kirchlich beeinflusste Leben in der Stadt in den Jahren zwischen 1945 und 1955 mit der seinerzeitigen Autoritätsgläubigkeit und den vielen Zwängen und Tabus beschreibt. Lebendig erzählt ist auch das Wiederaufleben der Stadt nach dem zweiten Weltkrieg, das Verhalten von Lehrern und Priestern, die einstigen Bräuche, Freizeit mit Spielen und Jungwacht.  Kern dieser faszinierenden Autobiographie ist die faszinierende Vater-Beziehung.

Zwei Leseproben aus dem Buch, das in der Buchhandlung «WörterSpiel» bezogen werden kann. Preis Fr. 19.80. (IBAN-Nr.: 9 783907 237021)

 

«Der See war ihre neue Kulisse. Vom Balkon der gediegenen Wohnung im zweiten Stock des neuen Postgebäudes (Anmerkung: es wurde 1942 an der Signalstrasse erstellt und 2008 durch den heutigen sehr ähnlichen Bau ersetzt) sah man über den Bahnhofplatz auf den Landequai der schweizerischen Schiffe. Die deutschen durften noch nicht anlegen. Sie fuhren schwarz getarnt vorbei, als blieben sie für die Sintflut des Krieges bestraft, und die stumme Menschenmasse am Uferbord machte den beinahe kippenden Dampfer zu einer irrealen Seelenarche aus dem Nebel des Nordens. Die Grenze blieb noch geraume Zeit gesperrt und auf die ersten Schiffe durften nur diejenigen, die Verwandtschaften im nahen Deutschland vorweisen konnten. Das Warten auf den Passierschein brauchte Zeit und Geduld. Als es dann soweit war, pressten sich die auserwählten Pilger auf die Fähre des Wiedersehens. Im Hafen gegenüber war die Menge noch dichter; die Absperrgitter schwankten unter dem Druck; ausgestreckte Hände winkten stumm oder mit Hüten, Nastüchern, Dokumenten. Nach all den Kontrollstellen, durften sich die Landegäste endlich in die Masse mischen und vielleicht einen langersehnten Bruder, Onkel oder Vetter, eine halbvermisste Mutter, Tochter oder Base endlich in die Arme nehmen. Anderen war dieses Glück versagt, sie suchten vergebens weiter in diesem Gedränge der Überlebenden mit spitzerer Sprache, abgetragenen Kleidern, abgemagerter Gestalt und dementsprechendem Geruch. Allmählich lichtete sich die Menge, die Glücklichen verzogen sich und die Enttäuschten mussten sich mit ihrer Einsamkeit abfinden. So Grossmutter mit ihren beiden Enkeln. Hatte ihr Bruder den Brief nicht bekommen, keinen Reiseschein erstehen können, oder mit seiner seit dem ersten Weltkrieg angeschlagenen Gesundheit eine Störung gehabt? Wie auch immer, blieb nur noch auf die Rückfahrt des Schiffes zu warten. Grossmama war besorgt um ihren jüngeren Lieblingsbruder, der dem Führer nie gehuldigt hatte; und die Buben hätten so gerne jenen Grossonkel kennengelernt, der wie durch ein Wunder die Tücken des Hitlerwahns überlebt hatte.»

«Im dritten Schuljahr wurde die Klasse am Samstagmorgen zur ersten Stunde in zwei Gruppen aufgeteilt. Die einen, hiess es, seien katholisch und die anderen reformiert. Die Reformierten wurden ins Zimmer eines steiftrockenen Lehrers gewiesen, der die zu Unterrichtenden auf Anhieb wie ein Zöllner inspizierte. Beim Entdecken eines Heiligenbildes auf dem Pult eines Schülers erfasst er es, hebt es hoch und stösst aus: merkt euch ein für allemal: mit solchem Kram kommt ihr nicht mehr hierher. Das sind katholische Bilder. Bist du katholisch oder reformiert? fragten nun die Kinder einander. Katholisch, rossbolisch; reformiert, s’Füdle verschmiert. Reformiert wie euer Vater, war die Antwort am Familientisch. Als aber das Scheidungsurteil die Kinder rechtsgültig ihrer Mutter zusprach und sie folglich weiterhin bei den Grosseltern bleiben würden, wurde ein Religionsunterricht in der Konfession des entfernten Vaters ein fragwürdiger Aufwand. Grossmama meldete also den Buben, fortan sei ihr Platz bei den Katholiken. Dies aber bedingte eine Aufklärung: ehe man in Gottes Kirche aufgenommen würde, musste man ihn kennen. Das heisst getauft werden. Zwar waren dies die Buben bereits, kaum nach der Geburt, aber eben bei den anderen, also ungültigerweise. So wurden sie mehrmals bei einem Kaplan der Jugendkirche bestellt, einem himmelernsten, der sie in den Sachen Gottes unterrichtete.» (Text oe eph)

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