Und dann ergeben sich diese Folgegeschichten…

Am 12. Juli 2023 wurde hier im Rorschacher Echo der Bericht „HPV Rorschach entstand aus Eigeninitiative“ veröffentlicht. Auch Alex Gasser, selber in Rorschach aufgewachsen und seit rund 50 Jahren im fernen Birsfelden wohnhaft, hat die Geschichte rund um Annelies Stössel gelesen. Und noch besser: Er hat mir einen Auszug aus seinen Memoiren zukommen lassen und mir die Erlaubnis erteilt, diese Zeilen hier im Rorschacher Echo zu publizieren. Herzlichen Dank. Und jetzt tauchen wir ein in ein bisschen Rorschacher Quartier-Geschichte. Die Bilder dieser Liegenschaft wurden letzte Woche gemacht.

Hohbühlstrasse 22 in Rorschach

„Das grosse Haus lag am Hang, etwas von der Hohbühlstrasse abgesetzt und bot von der Stadtseite her gesehen wie eine alles beherrschende Trutzburg. Vorgelagert waren zwei Anbauten: das Feuerwehrdepot und darüber ein Schulungsraum der Gemeinde.

Das Haus Nr. 20a bestand aus vier Sechszimmerwohnungen. Riesengrosse Wohnungen: der Gang war gut 13 Meter lang und 3 bis 4 Meter breit. Wir konnten Trottinett- und Rollschuhfahren; in meinem Zimmer stand nebst dem Bett, Tisch und Stuhl, ein Tischtennistisch.

Meine Eltern zogen mit mir 1949 von der Kronenstrasse an die Hohbühlstrasse 20a. Der Vermieter war der Ladenbesitzer Engensperger an der Hauptstrasse. Bedingung war, dass Frau Steinach zwei Zimmer bewohnen durfte (separater Zugang vom Treppenhaus, Mitbenutzung von Küche und Bad). Frau Sophie Steinach kam aus Deutschland, sie war Witfrau. Wir Kinder profitierten von ihrem Hochdeutsch. Frau Steinach verstarb Ende der 50iger Jahre. Sie war Schweizerbürgerin von Uttwil.

Am 25. Dezember 1951 kam Rita und am 25. September 1956 Monika zur Welt. Monika stürzte am 27. Juni 1973 während einer Schulreise am Kunkelspass ab.

Neben uns lebte die Familie Lutz. Godi Lutz war Sekundarschullehrer, seine Frau war eine Baslerin und hervorragende Köchin. Godi spielte leidenschaftlich Cello. Sie hatten drei Kinder: Jörg, Peter und Dorothe. Jörg war zu alt, als dass ich Erinnerungen an hätte. Peter dagegen war ein Revoluzzer. Er absolvierte das Lehrerseminar, ohne je sein Sek-Zeugnis abgegeben zu haben. Als unser Haus einmal eingerüstet war, schlich ich mich aufs Gerüst und beobachtete ihn durch einen Spalt der Vorhänge, beim… Das war dann meine Aufklärung…

Dorothe heiratete einen in Deutschland stationierten US-Soldaten. Die Familie Lutz glaubte, dass er ein Sohn reicher Farmer sei. Nun, einen Sohn brachte er zustande, doch die Farm entpuppte sich als normaler Bauernhof, auf dem man arbeiten musste. So kehrte Dorothe zusammen mit ihrem Sohn wieder in die Schweiz zurück.

Über uns wohnte der Primarlehrer Hutter mit Familie. Marianne, sie wurde Ärztin und lebt heute in Basel, die Zwillinge Gallus und Kolumban und die schöne und gescheite Therese.

Oberhalb der Familie Lutz wohnte die Familie von Rudolf Stössel. Sie hatten vier Kinder: Hans, Vreni, Regula und Annelies. Vreni, wie auch Therese Hutter sind gleich alt wie ich. Annelies war geistig beeinträchtigt. Zum Leben und Wirken von Rudolf Stössel gibt einen schönen Band: Einblicke – Rückblicke –Lichtblicke. (Anm.: Da schliesst sich der Kreis zum eingangs erwähnten Artikel „HPV Rorschach entstand aus Eigeninitiative“)

Die Familie von Dr. Ernst Bauer. Sie bezog später die Wohnung von Rudolf Stössel. Ihre Kinder, vier Mädchen und ein Knabe, waren dann eher im Alter meiner Schwestern. Ernst Bauer war kantonaler Schulpsychologe. Eines der Kinder, Vreni, hatte das Down-Syndrom. Meine Mutter betreute die Kinder und verdiente sich dabei einen kleinen Batzen.

Grundsätzlich fühlten sich meine Eltern, mein Vater war Handwerker und meine Mutter durfte keinen Beruf erlernen, wie Fremdkörper in diesem gescheiten (ehrenwerten) Haus. Doch mit der Zeit wurden die handwerkliche Geschicklichkeit meines Vaters und die Hilfsbereitschaft meiner Mutter sehr geschätzt.

Zum Haus: Unter dem hohen Dachstock hatte jede Familie einen grossen Estrich von der Fläche einer Wohnung. Hutters hatten zwei Zimmer für die Zwillinge ausgebaut, ohne WC und Dusche. Dadurch konnten Sie in ihrer Wohnung zwei Zimmer an Seminaristen vermieten. Godi Lutz hatte ein Maleratelier eingerichtet. Vom Estricheingang her konnte man auf die Decke des Ateliers klettern. Es war eine Leichtigkeit, die lose aufgelegten Bretter zu verschieben. Ein kurzer Sprung, und ich stand im Atelier. Mit grossen Augen betrachtete ich das Bild auf der Staffelei: eine nackte Frau. Das war eine der unzähligen Geheimnisse, die ich behütete.

Ruedi Stössel hatte im Estrich seine „Kasperle“-Theaterbühne aufgestellt. Er und seine Frau spielten mit den Puppen jedoch keinen Kasperle, sondern anspruchsvolle Stücke. Stössels wie dann auch Bauers haben eines der Zimmer für eine Haushalts- Praktikantin eingerichtet.

Mein Vater hatte in unserem Estrichabteil seine Werkstatt, in der er ganze Eisenbahnanlagen und später Modellflugzeuge bastelte. Da ich seine Hobbys nie teilte, pfuschte ich ihm auch nicht in seine Arbeiten.

Das Haus wurde im Winter durch eine Zentralheizung beheizt. Diese befand sich im Sockelbereich des Hauses. Es war ein dunkles, kaltes Loch. Die Kohle wurde durch eine Röhre in den Raum neben dem Heizkessel geleert. Das Heizen war die Aufgabe der jeweils ältesten Knaben. Es war eine Knochenarbeit: zweimal am Tag musste der Kessel gefüllt werden. Wehe man vergass es – dann war das ganze Haus schnell kalt und das Wiederanheizen benötigte Zeit. Für die Arbeit erhielten wir pro Familie und Winter zwanzig Franken.

Ich war der letzte Bube, der zum Heizer ernannt wurde. In dieser Zeit beherbergte die Familie Hutter wieder zwei Seminaristen. Diese fragten mich, ob ich in unserem Haus einen geeigneten Raum für Musizieren wüsste. Ich zeigte ihnen den Heizungsraum.  Gemeinsam entrümpelten wir diesen. Peter Meier liess ein altes Klavier herbeischaffen und ich erhielt von einem Freund ein altes Schlagzeug, auf dessen Pauke Lehrer Hutter ein Signet malte: The Rascals.“ (Text: ag)

 

Foto: Privatarchiv Alex Gasser

Foto: Privatarchiv Alex Gasser

Foto: Privatarchiv Alex Gasser

Die Folgegeschichte zum Nebenhaus folgt.

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