Weihnachtsgruss eines berühmten Exil-Rorschachers

Der in Rorschach im Neuquartier in einer achtköpfigen Arbeiterfamilie aufgewachsene Niklaus Fritschi lebt seit 50 Jahren in Deutschland und ist in Düsseldorf ein gefragter Architekt, Städteplaner und Professor. Seine berühmteste, preisgekrönte Arbeit ist die Düsseldorfer Rheinpromenade. Fritschis Faden nach Rorschach ist nie gerissen, jährlich besucht er Familie und Freunde und ist stets interessiert an der Entwicklung der Stadt, besonders am Umgang mit ihrem industriellen Erbe. Zurzeit schreibt er an seinen Memoiren – von der Jugend in Rorschach bis zur Berufsblütezeit. Mehr über Niklaus Fritschi kann man weltweit erfahren, wenn man in Wikipedia unter Professor Niklaus Fritschi googelt. Fritschis Weihnachtsbrief 2022 an seinen Freundeskreis enthält eine Passage, die es wert ist, hier zur Weihnachtszeit publiziert zu werden:

Der Nebel

„Er gehört zum Bodensee wie das Kind zur Mutter – schon als Kind mochte ich die nebligen Tage, vor allem in der kalten Jahreszeit. Kurz vor dem Weihnachtsfest stapfte ich mit meinem Vater durch leise niederrieselnde Nebelschleier – wir waren unterwegs um einen Christbaum zu besorgen. Tage davor hatte es geschneit, der eisige Schnee knirschte unter Vaters schweren Schuhen – er hatte seine Schritte den Meinen angepasst – so konnte ich ihm sicher folgen. Sehen konnte ich nichts, überall weiß, oben, unten, vorne und hinten. Wir hatten den Aufstieg zum Sulzberg endlich hinter uns, danach ging`s auf ebenen Wegen weiter zum Wittenholz. Im Wald war die Schneedecke dünner, doch der letzte steile Anstieg zum Mötteli-Schloss war vereist. In der gemütlich warmen Gaststube im Hof nebenan begrüßte uns der Bauer. ‚Wo man denn ein schönes Bäumchen finden könne‘ fragte Vater. ‚Auch eine Flasche Schnaps würde er seiner Frau gerne mitbringen – für ihre Birnen-Weggen, die sie immer zu den Festtagen backe.‘ Die beiden Männer wurden schnell handelseinig – mit Baum und Schnaps machten wir uns auf den Nachhauseweg. In der Abenddämmerung klarte es auf, der Nebel verschwand und es wurde bitterkalt. Die Aussicht vom Sulzberg auf den tiefschwarzen Bodensee war glasklar. Am Ufer entlang zog sich eine funkelnde Lichterkette. Der Sternenhimmel war überwältigend, auch wenn ich den biblischen Stern von Bethlehem vergeblich gesucht hatte, verspürte ich eine geheimnisvolle Vorfreude aufsteigen.

Heute, nach gut siebzig Jahren ist meine Welt wieder vernebelt (Fritschis Augenlicht ist schwer beeinträchtigt) – die Erinnerung an den Nebel überm Bodensee ist jedoch tröstlich, sie lässt meine Düsternis fast freundlich erscheinen.“

Das Beitragsbild wurde von Niklaus Fritschi zur Verfügung gestellt.

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