„Zettelpoet“ hat „Pflück-Texte“ in Rorschach installiert

Der Wiener Zetteldichter Helmut Seethaler war am Freitag (im Mozart, Bilder unten) und gestern Samstag (im Strassenbild der Stadt) Gast des Kunstvereins Rorschach.

Über 3000 Anzeigen wegen Ausübung von Kunst. Wie ist so etwas möglich? Schwere Sachbeschädigung? Dankbar wären brachiale Gewalt oder Beleidigungen übelster Art, doch nichts dergleichen. Helmut Seethaler ist der friedlichste und freundlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Seine Kunst sind kleine Zettelchen mit Gedichten, Sinnsprüchen oder Wortspielen. So genannte „Pflück-Gedichte“, die er an Laternenpfähle oder kleine Bäume klebt. Dabei benützt er nicht einmal doppelseitiges Klebeband, nein, er begnügt sich mit ganz normalem Klebeband, das er mit der Klebeseite nach aussen um die Bäume wickelt. Die Gedichte sind so also völlig schadfrei und sauber entfernbar. Auch der Inhalt der Texte kann niemanden wirklich beleidigen, es sei denn der Angriff auf das Denken ganz allgemein. Genau das ist das Ziel von Helmut Seethaler, er will die Leute zum Nachdenken bringen und zwar alle, nicht nur die Kunstbeflissenen. Insofern war das Publikum im Mozart nicht unbedingt repräsentativ, seine normale Klientel findet er in Wiens U-Bahn-Schächten oder in belebten Einkaufspassagen.

Immer wieder eckt seine Kunst an. Es finden sich vor allem Männer, nie Frauen, die ihn beschimpfen und seine Zettelgedichte abreissen wollen oder ihn anzeigen. Zum Glück findet er in zweiter Instanz immer wieder, auch hier vor allem Richterinnen, die ihn frei sprechen. In einem denkwürdigen Prozess wurde ihm von höchster richterlichen Instanz bescheinigt, dass das, was er mache, „Kunst“ sei, und eh nie ein Strafbestand.

Die Kunst der „Zettel-Poesie“ übt Seethaler seit 1973 aus und er macht seither nichts anderes. Anfangs vor Schulen und der Universität bringt er vorwiegend konsumkritische und gesellschaftskritische Gedanken unter die Leute. Das aber nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern freundlich, aber konsequent. Selbst wenn er die Texte vorliest, braucht das Verstehen seine Zeit. Das liegt nicht nur am überaus sympathischen Dialekt, den er auch in Rorschach nicht ablegen kann oder will. Man musste schon genau hinhören um zu verstehen.

Seethaler verdient mit seiner Kunst kein Vermögen. Immerhin wurde er in letzter Zeit immer mehr anerkannt und bekam auch kleinere Preise und Stipendien. Dennoch bleibt er sich selbst und seiner Kunst treu. Nicht einmal ein Buch wollte er herausbringen, einzig ein „Pflückbuch“ existiert mit seiner Lebensgeschichte und ausgesuchten Texten. Die meisten Seiten bleiben aber leer, die muss man selber füllen und Texte einkleben, die man vorher irgendwo gepflückt hat.

Noch nie hat man bei einem Vortrag eines Künstlers die Person und die Kunst und was dahinter steckt, intensiver erfahren als in der Lesestunde im Mozart. Die Anekdoten, noch mehr als die Texte selber, zeichneten ein Bild von ihm, das nachhaltig auf die Zuhörer wirkte. Nach diesem Abend kennen ihn zwanzig Personen mehr und alle wünschen von ihm noch viele Texte zum Nachdenken, schliesslich will er noch mindestens weitere 30 Jahre Zettel-Gedichte kleben, wenn es sein muss mit Rollator. (go)

Seine Aktion mit diesen „Pflück-Texten“ in Rorschach hatte für den Gast aus Wien glücklicherweise keine Folgen …

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1 Kommentar zu "„Zettelpoet“ hat „Pflück-Texte“ in Rorschach installiert"

  1. War sehr interessant mit Helmut Seethaler! Vielen Dank für die tollen Fotos!

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