„Der Schreibtisch kann irgendwo stehen“

Das nachstehende Interview mit dem Autoren Frank Heer ist seiner Lesung in der Kleberei kommenden Donnerstag, 2. Juni, gewidmet und wurde von Roman Elsener geführt.

Der ehemalige Rorschacher Autor und Musiker Frank Heer macht am Donnerstag um 19.30 Uhr den Auftakt zur neuen Saison der Kulturveranstaltungen in der Kleberei. Heer liest aus seinem neuen Roman “Alice”, in dem der junge Journalist Max Rossmann seinen Weg durch die Irrungen und Wirrungen der Liebe, der Politik und der Kultur der 70er Jahre ins Erwachsenenleben sucht. Die mit viel Sprachwitz erzählte Geschichte zeichnet in sorgfältigen Details ein Bild der Gesellschaft jener Zeit. Bei der Lesung hat Frank Heer die Gitarre und einen Kassettenrekorder dabei und wird begleitet von Jürg Plüss am Schlagzeug.

Frank, wie bist du auf die Idee einer Lesung mit Schlagzeug gekommen?

Aus irgendeinem Grund war das mein erster Gedanke: dass ich für meine Lesung ein Schlagzeug haben wollte. Vielleicht, weil es ein harmonisch neutrales Instrument ist, das viel Platz für Assoziationen lässt. Es ist komplett unsentimental. Und es gibt den Takt vor. Ich finde, „Alice“ ist ein sehr rhythmisches Buch, das einem Puls folgt. Mit dem Schauspieler Jürg Plüss habe ich jemanden gefunden, der nicht nur Schlagzeug spielen, sondern auch einzelne Rollen aus dem Roman lesen kann, im Dialog mit mir. So wird es mehr ein Hörspiel als eine Lesung.

„Alice“ spielt im Jahr 1975, Deine Hauptfigur Max Rossmann ist 23 Jahre alt. Du selbst warst damals ein neunjähriger Bub. Was hat Dich gereizt, in diese Zeit zurück zu reisen? 

Ursprünglich nur die Kulisse. Ich wollte die Geschichte einer Jugend schreiben, die gefühlt auch meine sein könnte. Aber um Distanz zu meinem eigenen biografischen Steinbruch zu schaffen, musste ich sie in einer anderen Zeit spielen lassen. Im Lauf des Schreibprozesses begannen mich die Siebzigerjahre aber auch als Epoche zu interessieren, diese Schnittstelle zwischen Desillusion und Aufbruch, zwischen Hippie-Traum und Punk. Nicht nur als Kulisse, sondern weil da auch eine grosse Verunsicherung in der Luft lag, eine Anspannung, eine Beklemmung, auch in der Schweiz, die seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auch wieder in unserer Gegenwart angekommen ist. Mit Corona und dem Krieg in der Ukraine sowieso.

Die Stadt in Deinem Buch ist ungenannt. Du hast lange Zeit in Rorschach gelebt – sind in der Stadt in der Deine Figuren herumspazieren, auch Rorschacher Ecken dabei?

Innenräume auf jeden Fall: Ich bin ja in Rorschach ins Lehrerseminar gegangen und habe hier sehr früh in meinen ersten WG’s gewohnt, erst an der Heidenerstrasse, dann im legendären „Haus“ an der Kirchstrasse, wo wir in der Werkstatt einen Kulturbetrieb und eine Bar führten und oft von der Polizei besucht wurden. Diese Erfahrungen spielen eine Rolle in „Alice“ – wenn auch die Stadt wohl eine andere ist, in der der Roman spielt. Wie sie heisst, weiss ich selber nicht. Es gibt einen Fluss… aber einen See sucht man vergeblich. Sorry.

Deine Reise führte aus Uzwil nach Rorschach, weiter nach New York und über die Wüste von Nevada (Schauplatz des ersten Romans “Flammender Grund”) zurück nach Zürich ins grüne Schwamendingen. Wie prägt die Umgebung das Schreiben?

Vermutlich weniger, als man denken würde. „Alice“ ist über einen Zeitraum von fast zehn Jahren entstanden, lange Pausen inklusive. Ich habe unzählige Stunden in Zürich, im Alpenhof auf dem St. Anton und in vielen Tel Aviver Cafés daran gearbeitet. Nichts von dieser Umgebung findet man im Buch. Ich glaube, am Ende ist es wichtig, sich einen Ort auszusuchen, der einem die Konzentration und die Musse ermöglicht, die man braucht, um in die Geschichte abzutauchen, die man erzählt. Das ist wie eine Parallelwelt. Ein eigenes Universum im Kopf. Der Schreibtisch kann irgendwo stehen.

Geistern Alice und Max noch in Deinem Kopf herum oder ruhen sie nun zwischen den Buchdeckeln?

Meine Figuren haben mich jahrelang nicht losgelassen. Verfolgt. Schon fast bis zur Belastung. Sie ruhen nun tatsächlich in Frieden zwischen den Buchdeckeln, und ich denke nicht mehr über sie nach. Darüber bin ich froh. Nur, wenn ich von Leserinnen oder Lesern auf sie angesprochen werde, merke ich, dass Alice und Max mehr sind, als nur meine Hirngespinste. Sie spuken jetzt auch durch andere Köpfe. Das freut mich sehr.

Besonders unterhaltsam sind die Szenen auf der Redaktion des Anzeigers, wo Max arbeitet. Du hast selber bei verschiedenen Zeitungen gearbeitet – werden sich die einen oder anderen Redaktoren in Deinen Beschreibungen wiedererkennen? 

Viele dieser Szenen gehen auf meine Zeit als Volontär bei der damaligen St. Galler Tageszeitung „Die Ostschweiz“ zurück. Das war Anfang der Neunzigerjahre. Und ja: das Figurenkabinett aus meinem Roman entstammt zumindest teilweise den alten Redaktions-Räumen neben dem Café Seeger – wenn ich auch die Spuren nachsichtig verwischt habe.

Du bist Journalist, Redaktor, Autor, Musiker, Vater – in welcher Rolle fühlst Du Dich am wohlsten?

Ich fühle mich eigentlich in keiner Rolle rundum wohl. Darum habe ich so viele ausprobiert.

Und welche “Rollen” reizen Dich noch?

Kioskverkäufer, Hotelbartender, Bassist bei Bill Callahan…

Das Interview führte Roman Elsener, der mit Frank Heer von 1996 bis 2000 die „New Yorker Staats-Zeitung” leitete. Mit den Rorschacher Bands Former Franks und Roman Games standen die beiden in den 90er Jahren auf vielen gemeinsamen Bühnen.

(Autorenbild stammt vom Limmatverlag)

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