Nähe und Zuwendung bei Menschen mit Demenz

An einem Dienstag Mitte November luden Fachspezialisten für Demenzerkrankungen der Ostschweiz ins evangelische Kirchgemeindehaus ein. Nach den einführenden Worten von Stadtpräsident Roberts Raths haben Dr. Birgit Schwenk, welche mit der Materie Demenzkrankheiten von Berufes wegen bestens vertraut ist und Marlies Schmid als persönlich Betroffene mit einem interaktiven Vortrag und Einzeldarstellungen die Problematik dargelegt.  Impulsreferat mit Podiumsdiskussion: Frau Dr. med. Birgit Schwenk, Chefärztin Akutgeriatrie, Seelsorgerin und persönlich Betroffene Marlies Schmid, Aktivierungsfachfrau Chantal Sutter. Moderation: Matthias Brüstle.
Musikalische Umrahmung: Sarah Wiesmann.

Mit der Klarheit einer Ärztin hat sie den Vortrag begonnen und mit 130’000 Demenzkranken in der Schweiz die Dimension aufgezeigt. Nicht alle seien hochbetagt. Denn bereits ab dem 60. Altersjahr beginnt der Abbau der Leistungsfähigkeit und steigert sich so, dass bei den über 90-Jährigen über 40 % von Demenz (Alzheimer ist lediglich eine Unterabteilung von Demenz) betroffen sind. Dass Demenz noch nicht heilbar ist und nur durch Training ein wenig hinausgezögert werden kann, hat die meisten geschockt. Ihre Ausführungen, dass Schlüssel verlegen, Namen vergessen und dergleichen noch nichts mit Demenz zu tun hat, war wahrscheinlich für viele wohltuend zu hören. Die drei Phasen der Demenz hat Marlies Schmid, die jahrelang ihren Vater begleitet hat, anschaulich geschildert. Wenn er nicht mehr wusste wo er sein Auto in der Stadt parkiert hat, hat das die Familie noch mit einem heimlichen Lächeln quittiert. Die immer gleichen, sich wiederholenden Fragen haben wir als zu grossen Stress abgetan, denn er war ja erst 67 Jahre und keiner hat an Alzheimer oder Demenz gedacht. Aber es war der Anfang von Phase eins. «Es war die Zeit, in der er sich gegen die Krankheit und Wahrheit gewehrt hat und wir noch gehofft haben, dass es nicht so schlimm wird. Es wäre die Phase gewesen, in der er noch alles hätte regeln können, seien es wirtschaftliche oder persönliche Anliegen», meinte Frau Dr. Schwenk, «aber die Angst vor der Wahrheit ist bei vielen zu gross».

«Die zweite Phase war schon heftiger. Man konnte fast zusehen, wie er abgebaut hat, und es hat sich angefühlt, als würden die Fachbücher aus den Regalen seiner Lebensbibliothek fallen. Die neusten Bücher in den obersten Regalen sind noch einzeln herausgefallen. Jede Woche aber sind mehr und immer schneller Bücher aus den Regalen gefallen, bis nur noch die Kinderbücher und Singbücher geblieben sind. Das war die Zeit, in der wir auch Nachbarn und Bekannte informieren mussten. Als Mitwisser wurden sie zu ‚Komplizen‘ und wuchs die Dorf- und Nachbarschaftshilfe.»

«Die dritte Phase, in der er uns nicht mehr als seine Familie erkannte und auch nicht mehr gewusst hatte wer er war, hat er im Heim verbracht. Wir waren und sind überzeugt, dass er es dort unter den ausgeruhten und geduldigen Mitarbeitern schöner und besser hatte als bei uns, denn wir waren erschöpft.»

Die Podiumsdiskussion hat Moderator Matthias Brüstle mit der ersten Frage an Chantal Sutter eröffnet: «Wie beschäftigt ihr die Leute». Für alle Zuhörer wird bei den Ausführungen von Frau Sutter klar, dass die Biografie bei den Patienten wichtig ist. «Das Eingehen auf die Person und Abholen, wo sie sind, ist die Kunst des Pflegeberufes. Wir achten jeden Tag aufs Neue, wie wir den Patienten begegnen können. Und ja, wir verbringen nur acht Stunden pro Tag mit ihnen und sind nicht gleich emotional gebunden wie die Familie und können darum auch wieder abschalten und nachts schlafen.»

«Als Seelsorgerin», meinte Marlies Schmid, «ist es etwas ganz anderes einen Fremden zu begleiten, als ein Familienmitglied, das unter Demenz leidet.»

Im Wissen, dass es den richtigen Zeitpunkt für die Abklärung wohl nicht gibt, aber Hilfe und Entlastung für die Angehörigen jederzeit abrufbar und deshalb auch anzunehmen ist, sind wir mit Musik wieder in den Alltag entlassen worden.

Manch einer hat sich über die Anwesenheit von Stadtpräsident Robert Raths gewundert, so dass ich ihn nach seiner Aufgabe bei diesem Vortrag gefragt habe: «Solche Vorträge interessieren mich privat, und auch als Stadtpräsident bin ich mit solchen Problemen immer wieder einmal konfrontiert», so Raths. Dass es die Corona-Kontrolleure ganz genau genommen haben, hat viele beruhigt, denn der Saal war fast bis zum letzten Platz besetzt. Dem Thema entsprechend haben sich viele Ü-Siebziger, wie auch der Schreiber, im Saal befunden. (Text: Paul Etter, Bild: pd)

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