Vor 100 Jahren war dies der Streik-Versammlungsplatz

Der 12. November 1918 war ein Dienstag und dieser Dienstag sollte auch in die Geschichte der Stadt eingehen. Wie in der ganzen Schweiz wurde auch in Rorschach gestreikt und just heute vor exakt 100 Jahren versammelten sich am Hafenplatz rund 700 Arbeiter. Die Ansprache hielt Johann Högger. Er war Präsident der Arbeiterunion und diese organisierte den Streik. Högger war Werkstättearbeiter und sass auch im Rorschacher Gemeinderat. Es sprach auch Rechtsanwalt und SP-Politiker Johannes Huber. Er hatte ein Anwaltsbüro und war Mitbegründer der St.Galler SP. Auch er war ein Mitglied des Gemeinderates von Rorschach und des Kantonsrates St. Gallen. Ab 1919 zudem auch Nationalrat und Präsident der Vollmachtenkommission während des Kriegs. Johannes Huber war für die damalige Zeit ein einflussreicher Mann. Er hatte sich mit Broschüre gegen Bolschewismus und für Sozialismus als Reformer positioniert und verteidigte im Generalstreik-Prozess Mitglieder des Oltener Komitees. Und dann ging der Demozug in Rorschach los. Nachstehend kurze Inputs zu einzelnen Begebenheiten bei damaligen Betrieben.

Loepfe-Benz: Zuerst ging der Demozug zum Verleger der «Rorschacher Zeitung», J.M. Cavelti und zur Druckerei Loepfe-Benz, die damals noch am Rorschach Hafen gedruckt wurde. Am Nachmittag wurde dieser Betrieb umstellt und man wollte unter allen Umständen eine Auslieferung der Druckerzeugnisse verhindern. Der damals 15jähriger Ausläufer Ernst Walser sollte einen Sack zur Post bringenund wird in der Signalstrasse von zwei Streikenden verfolgt und ein Scharmützel im Hauseingang war die Folge. Maschinensetzer Ernst Gruber behändigte den Sack und wirft ihn in der Druckerei in den Innenhof. Cavelti macht sich mit dem Setzerlehrling Langenauer selber auf den Weg. Aber er wird  umstellt. «Der Sack bleibt da!». Dieser legendäre Satz sollte heute vor 100 Jahren hier in Rorschach gefallen sein. Cavelti kapituliert unter Protest. Er bezichtigt Johannes Huber später, er habe die Menge angestiftet. Huber soll gesagt haben: «Arbeiter, Ihr werdet dafür sorgen, dass die Rorschacher Zeitung nicht herauskommt!»

Feldmühle: Der Demozug geht zur Feldmühle, damals Rorschachs grösster Textilbetrieb. Högger geht direkt ins Chefbüro von Direktor Loeb. Er müsse schliessen, sonst könne man für nichts garantieren. Loeb verweist auf die Fabrikkommission, die «dreingend gewünscht» habe, zu arbeiten. Loeb kapituliert und sichert die Schliessung ab Mittag zu. Gibt später zu Protokoll, er habe Schäden befürchtet, die uns ja doch niemand vergütet hätte.

Zürn & Cie: Der Streikzug geht zum Stickereibetrieb Zürn & Cie. Der Chef sagt, er überlasse es den ArbeiterInnen, ob sie bleiben wollen. Högger und Schlosser Surbeck gehen zu den Frauen und sagen: «In der ganzen Welt findet eine Umwälzung statt. Die Sozialdemokratie macht mit und führt sie durch.» Man wolle den Achtstundentag sowie mehr Lohn. Man könne nicht garantieren, dass «die Jungburschen da draussen» keine Gewalt anwenden. Die Stickerinnen legen die Arbeit nieder.

Der zweite Streiktag beginnt wieder mit Ansprache auf Hafenplatz. Högger sagt, dass immer noch Betriebe arbeiten, was viel Empörung auslöste.

Sägerei Stürm: Man geht über Rorschach hinaus zur Sägerei Stürm im Rietli Goldach. Disput, Frau Stürm erscheint und gibt klein bei. Stürm sagt später, er habe befürchtet, es gingen Scheiben in Brüche.

Marmorsäge Schmid & Zuber: Besitzer Alex Schmid weigerte sich zu schliessen. Er drohte mit Militär. Streikende ziehen ab, hinterlassen aber Streikposten. Der Arbeiter Roos wurde am Arm gepackt, als er rein wollte. Konnte sich losreissen. Wütende Rufe: «Wart nu, Bürschtli, mir chämed di scho no über und gend dir uf de Grind!»

Stickereibetrieb Union: Geschäftsführer Hagge lenkt aus Angst vor Ausschreitungen ein. Er sagt: «Es hat ja keinen Zweck, gegen den Strom zu schwimmen.»

Textilwerke Blumenegg: Streikende schicken zwei Delegierte mit dem Velo ins Goldachtobel. Verlangen von Geschäftsleiter Faes die Schliessung. Faes will aber nur mit Unionspräsident Högger verhandeln. Der ist nicht aufzutrieben. Drohung mit dem Demozug. Es erscheinen Jean Geser, Carl Ruosch und Carl Wälli. Warnen vor Ausschreitungen extremer Elemente. Faes fordert beim Goldacher Gemeindeamt militärischen Schutz an. Bekommt ihn aber nicht. Willigt in die Schliessung ein.

„Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Das wurde für zwei Tage in Rorschach Realität. Es war eine Verkehrung der Machtverhältnisse. Arbeiter hatten das Sagen, Chefs mussten sich fügen. Der Streik ging gewaltlos über die Bühne. Nur kleine Scharmützel waren auszumachen. Fuhrknecht Josef Hässler wollte beim Kornhaus für die Baufirma Rüdig Kies laden und lief den beiden Streikposten Antonio Bersi und Gaetano Sgarbi in die Hände. Diese packten seine Schaufel und warfen sie in den See. Er musste Fuhrwerken einstellen und erlitt einen Schaden von Fr. 8.- (Schaufel).

Es folgte dann eine akribische Ermittlung wegen Straftaten. Das erfolgte auf Anordnung der St.Galler Staatsanwaltschaft und das Bezirskamt Rorschach ermittelte. 8 Streikende wurden wegen Nötigung angeklagt. Johann Högger, Theo Surbeck, Antonio Bersi, Amletto Locatelli, Theo Schoch, Johann Ehrbar, Jean Geser, Ernst Gruber. 4 wurden wegen Nötigung zu Bussen von 30 Franken (damals enorm viel Geld) verurteilt, der Rest erhielt einen Freispruch mangels Beweisen. Ein bedingter Straferlass wurde ausdrücklich verweigert. Einige verloren später die Stelle, aber die Justiz getraute sich nicht, Johannes Huber anzuklagen.

Der Text stammt von Ralph Hug, der schon beim Streikanlass Ende Oktober mit seinen Ausführungen den Besuch der einzelnen Streikorte bereicherte.

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